Titel: Wie das Leben doch so spielt
Autorin: Karin (bzw. Katrin Elisabeth)
Hauptpersonen:
Bub: Herbert bzw. Karin Faltenhauser
Stoffbaer: Peter bzw. Petra
Vater: Papa
Mutter: Mama
Lehrerin: Fr. Ruth
Ballettschule: Ehepaar Maierhofer
Inhaltsverzeichnis:
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HINWEIS
VORWORT
GESCHICHTE
Einleitung
Hauptteil
Kataloge
Veraenderungen
Orthopaedenbesuch
Maedchenunterwaesche
Weihnachten
Kinderkleidermarkt
Psychologe
Schlusskapitel, nein Tanzbekleidung
Ballett
Erstkommunion
Psychologenbesuch
Kommunionkleid
Geschichtsende
Alternativende
Absolutes Ende ?
HINWEIS 1:
Die von mir geschriebene Geschichte kann auch ohne meines Wissens
elektronisch gespeichert und verbreitet werden. Ein Abaendern oder
Umschreiben ist jedoch nicht gestattet. Fuer die Weitergabe dieser
Geschichte soll ausserdem in keiner Weise irgendwie Geld verlangt
werden.
Katrin
HINWEIS 2:
Urspruenglich war diese Geschichte eine HTML-Datei. Das
Inhaltsverzeichnis stellte gleichzeitig eine Linkliste zu den
einzelnen Kapiteln dar. Zur Speicherung dieser Geschichte auf
www.fictionmania.tv aber musste ich daraus eine reine Textdatei
erzeugen. Die Links gingen dabei verloren. Das tut mir sehr Leid.
Wer das VORWORT elegant ueberspringen moechte, der findet den
Geschichtsstart durch Suchen des Strings 'Start'.
Katrin
VORWORT:
Das Leben, es ist schon eine komische Sache. Der eine sagt, 'ich
lebe', und meint damit sich als Ganzes. Das 'Ich' ist fuer ihn sein
Koerper mit Kopf, Body und Extremitaeten. Und der andere meint
mit 'ich lebe' genau das Gegenteil von dem, was ersterer mit 'Ich'
meinte. Fuer ihn ist der Koerper so eine Art Wohnstaette. Er -- als
'Ich' -- wohnt in diesem seinem Koerper, den er nun schon sein
Leben lang -- komisch wie das klingt -- als seinen Koerper sieht.
Fuer den einen ist dieses Leben hier 'das Ein und Alles', und er
glaubt, wenn er stirbt, dann ist fuer ihn alles vorbei, dann gibt
es ihn nicht mehr.
Fuer den anderen ist dieses Leben eine Art Durchgangsstation. Er
lebt, und sein 'Ich' ist nicht sein Koerper sondern es sind seine
Gedanken, seinen Ideen, seine Fantasien, seine Traeume und seine
Liebe. Dieser andere, er lebt nicht als Koerper, sondern mit diesem
Koerper, in diesem Koerper. Fuer diesen anderen ist sein Koerper
nur eine Art Wohnstaette. Er lebt momentan darin -- aber genausogut
koennte er anderswo leben. Koerperlos, mit einem anderen Koerper,
in einer anderen Dimension -- was auch immer das heissen mag -
oder wie auch immer. Er lebt einfach, und sein Leben ist nicht an
diesen einen, ganz bestimmten Koerper hier auf Erden gebunden.
Tja, das mit dem sich Entwickeln ist so eine Sache. Sicher spielt
die Umwelt dabei eine recht entscheidende Rolle. Man sieht, man
vergleicht, man lernt, und man speichert nicht nur ganz einfach
wieder abrufbares Wissen ab, wie zum Beispiel Vokabeln, sondern man
konditioniert auch. Vokabel kann man wieder vergessen, aber
konditioniertes 'Wissen', das steckt in einem drin. Konditioniertes
'Wissen' -- aus Therapeutensicht -- ist immer mit Emotionen
verbunden. Es kann in einem Aengste verursachen aber auch Freude
und Glueck oder einfach Zufriedenheit und Ruhe.
Bewusst steuerbar sind diese konditionierten Gefuehle wohl kaum.
Sie kommen in einem einfach hoch, abhaengig von den momentanen
Gedanken oder den aeusseren Einfluessen.
Ob ich wohl von meiner Mutter konditioniert wurde? Ich weiss es
nicht. Ach, so ein Schmarrn, natuerlich weiss ich es. Ja, ich wurde
konditioniert. Jeder wird von seinen Eltern konditioniert.
Konditioniert zu werden, das gehoert zu der sogenannten
Sozialisation jedes einzelnen von uns. Allein schon Bedenken zu
haben wegen der Vorwuerfe der Mutter, weil man zu spaet
heimkommen wird, ist nichts anderes als die Folge einer
Konditionierung.
ACHTUNG:
Diese Geschichte hier hat nichts mit meiner wirklichen
Vergangenheit zu tun! Sie ist eine Fantasiestory. Wie heisst's so
schoen in anderen Romanen? "Die Hauptdarsteller in dieser
Geschichte sind rein fiktive Personen, eine Aaehnlichkeit zu real
existierenden Individuen waere reiner Zufall." Eigentlich schade. So
sehr wuenschte ich mir, dass diese Geschichte, die ich hier nun
scheiben werde, meine eigene Vergangenheit erzaehlen wuerde.
Aber leider ist es nicht so. Vielleicht glorifizier ich in dieser
Geschichte den 'Papi'. Vielleicht gibt es so einen Papi gar nicht.
Aber in meinem Traum gibt es ihn eben. Es muss ja nicht jeder
Vater so sein wie meiner es war.
Ja, ich will traeumen, tagtraeumen. Ich will von einer
Vergangenheit erzaehlen, die ich nie hatte. Aus diesem Grund
werde ich nicht den Namen 'B...', sondern 'Herbert' verwenden.
Mit dem Namen 'Herbert' tue ich mir vielleicht leichter, eine
schoene, nette und erfreuliche Story zu schreiben.
Wann ich sie schreiben werde? Ich weiss es noch nicht. Die
Momente der Glueckseeligkeit, der Begeisterung, der wirklichen
Lebensfreude, sie sind bei mir nur phasenweise, gelegentlich.
Unser Koerper, er ist doch eigentlich nur eine Huelle, eine Maske.
Und doch komme ich hier auf dieser Erde einfach nicht klar damit,
als Mann zu leben. Ist doch verrueckt. Ich betrachte aufgrund
meines christlichen Glaubens diesen meinen Koerper als
momentane Wohnstaette. Ihn aber maennlich wahrnehmen zu
muessen, das ist fuer mich geradezu untragbar. Ob das an einer
Konditionierung liegt? Nun ja, eins ist klar, ich mag mich ganz
sicherlich nicht mit dem Maennergeschlecht vergleichen. Fuer mich
ist (fast) alles von Menschen verursachte Boese auf dieser Welt von
Maennern bewerkstelligt worden. Aber, diese Denkweise koennten
ja alle anderen Maenner auch haben und muessten sich dann fuer
ihre Maennlichkeit schaemen. Tun sie aber nicht. Mit anderen
Worten, die Boshaftigkeit des Maennergeschlechts ist es nicht, was
mich zur Weiblichkeit tendieren laesst. Ausserdem gibt es auch eine
Menge boeser Frauenzimmer. Warum vergleiche ich mich als
Maedchen bzw. junges Fraeulein nicht mit ihnen? Und schon waere
ich wieder auf der 'Maennerseite'. Nun ja, keine Ahnung!
Ich bin wohl keine, die sich gern auf die Seite des Staerkeren
schlaegt, nur um dadurch vielleicht mehr anerkannt oder akzeptiert
zu sein.
Warum ich so bin wie ich bin? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur,
dass die nun folgende Geschichte eine schoene, sissymaessige
Geschichte werden soll. In diesem Sinne wuensche ich mir selbst
schon mal viel Erfolg beim Schreiben. Ob ich bei dieser Geschichte
ein Happy-End zustande kriege? Mal sehen.
Katrin
('Start' -- Sprungstelle fuer diese Textdatei)
GESCHICHTE:
Einleitung:
Wisst Ihr was eine Sissy ist? Eine Sissy, das ist ein Bub der die
Farbe Rosa liebt. Das ist mir kuerzlich von meinem Papa gesagt
worden. Dabei hat er gelacht.
Wisst Ihr was ein wundervoller, lieber Papi ist? Ein Papi, der bei der
Erklaerung des Wortes 'Sissy' lacht, bei dem dieses Lachen aber
nicht verletzend, sondern vielmehr sympathieausstrahlend wirkt.
Ich bin keine Sissy. Denn wenn ich ganz, ganz, ganz ehrlich bin,
dann bin ich naemlich ein Maedchen.
Und wenn ich ganz, ganz, ganz ehrlich bin, dann bin ich eigentlich
ein Bub. Aber Papa sagt, dass ein Schwaenzchen aus einem Maedchen
noch lange keinen Bub macht. Bin ich nun ein Maedchen, oder bin ich
ein Bub?
Eigentlich bin ich ein Maedchen. Aber in Wirklichkeit bin ich ein
Bub. Mein Eltern liessen mich auf den Namen 'Herbert' tauften.
Die Gesellschaft also ist der Meinung, dass ich ein Bub bin. Und
eigentlich bin ich wohl auch ein Bub. Aber in meinen Traeumen, da
bin ich ein Maedchen.
Mama habe ich vor kurzem gesagt, dass ich eigentlich ein Bub
waere. Natuerlich meinte sie. Papa hat's mitgekriegt und schlug
gleich vor, da ich mich ja anscheinend wieder als Bub sehen
wuerde, dass es doch dann ganz OK waere, wenn er mich von nun
an wieder mit 'Herbert' ansprechen wuerde.
"Das will ich aber nicht! Ich bin Karin! Dabei rannte ich aus
meinem Zimmer, kroch unter mein Bett und zog meine Bettdecke
auch noch drunter. Ich wollte so richtig abgeschlossen,
weggeschlossen, nicht mehr da sein. Ich war ungluecklich. Papa,
der mich da bereits etwa ein halbes Jahr lang als sein kleines
Maedchen, seine Karin sah, der wollte ploetzlich wieder 'Herbert'
zu mir sagen! Wie konnte er nur?! Der Psychologe in Frankfurt fand
es doch auch ganz OK, wenn meine Eltern dieses 'Spielchen'
weiterhin spielten. Na ja, was heisst da Spielchen? Mama nennt
mich grundsaetzlich Herbert, mein Bruder ebenfalls, aber fuer
meinen Papi, fuer den bin ich seine liebe, kleine Tochter Karin.
Anfangs gab es wegen diesem 'Spielchen' zwischen Papa und mir
jede Woche einen kleinen Krach. Immer wieder versuchte er es mit
'er' und 'Herbert'. Und immer wieder war ich zu Tode betruebt,
fertig, kam nicht mehr zum Essen, verkroch mich unter meinem
Bett, und wenn ich quasi gezwungen wurde, am Tisch
dabeizusitzen, dann hatte ich eine Haltung oder eine Miene, dass
dies meine Eltern nicht oft von mir forderten. "Ich heisse 'Karin'!
Zumindest, wenn keine Bekannten dabei sind.", betonte ich
mehrmals. Bei solchen Krachs erinnert mich Papa jedes Mal, dass er
diese fuer notwendig hielte, um festzustellen, wie wichtig es mir
noch sei, von ihm als Maedchen wahrgenommen zu werden. Er
wolle mich nicht unterschwellig zu etwas verleiten, was ich mir
nicht wirklich von ganzem Herzen wuensche, so sagt er mir jedes
Mal. Ich kann's schon nicht mehr hoeren. Immer wieder das
Gleiche! Nein, Papa draengt mich nicht in eine Maedchenrolle, in
die ich eigentlich gar nicht rein will! Und ich will auch nicht
deshalb fuer ihn ein kleines Maedchen sein, weil ich mir dadurch
von ihm womoeglich mehr Zuneigung erhoffe! Ich will fuer ihn ein
Maedchen sein, weil ich davon traeume, ein Maedchen zu sein.
'Spielchen' habe ich da oben geschrieben. Eigentlich kann ich
diesen Ausdruck nicht ausstehen. Ein Spielchen ist fuer mich etwas
Vergnuegliches. Worum es hier aber geht -- Papi verwendet
uebrigens das Wort Spielchen niemals -- das ist beim besten Willen
nichts Unterhaltsames, Vergnuegliches. Hier geht's um etwas
Existenzielles, um etwas absolut Entscheidendes. Fuer meine Mama
ist es ein 'Spielchen' -- das sie nicht mitzuspielen bereit ist. Das
heisst doch eigentlich, dass ihr die Ernsthaftigkeit dieser Sache
bewusst ist, oder nicht? "Ich kann jetzt nicht 10 Jahre lang 'Karin'
sagen, und wenn er dann ein 19-jaehriger, baertiger junger Mann ist,
wieder auf 'Herbert' umsteigen.", sagte sie mal. Daher bezeichnet
sie das Ganze als 'Spielchen' von mir -- und mir tut's jedes Mal
auf's Neue weh. Wenn sie sich nur irgendwie vorstellen koennte,
wie gluecklich sie mich machen wuerde, wenn sie mich als
Maedchen wahrnaehme. Das waere fast der Himmel auf Erden.
Aber immerhin, sie ging mit mir sogar schon zu einem
Kinderkleidermarkt, nur sie und ich, einfach weil ich sie sehr darum
bat. Ich weiss schon, das ist schon mehr als was sich andere, so wie
ich denkende Kinder zu ertraeumen wagen. Und doch, irgendwie ist
es noch immer zu wenig.
So war zum Beispiel vor 2 Wochen mein grosser Bruder Taufpate
bei einem unserer Cousins. Ich wollte nicht ordentlich und
fesch, sondern huebsch zu diesem Anlass angezogen sein. Aber
Papa sagte nein und Mama war seiner Meinung. Na ja klar, Mama
sagt immer eher nein bei sowas als Papa. Aber dieses Mal sagte
eben auch er nein, und das, obwohl ich doch bereits seit langer Zeit
offiziell als Bub (manchmal) Kleider trage. Solche Faelle meine ich
eben, wenn ich sage, "und doch, irgendwie ist es noch immer zu
wenig".
Aber ich nehme da wohl etwas vorweg. Ich wollte ja eigentlich
chronologisch vorgehen, also anfangen damit, wie alles anfing, und
die Geschichte beenden mit der Beschreibung der momentanen
Gegebenheiten (Juli 1999). Also, dann will ich mal:
Hauptteil:
Abschnitt 1: Kataloge
Wie alles angefangen hat? Ich weiss es nicht mehr. Nur noch
bruchstueckhaft erinnere ich mich, dass ich sehr gern mit Maedchen
im Kindergarten spielte. Nein nein, nicht dass ich mich vor Buben
gefuerchtet haette! Ganz im Gegenteil. Aber die Gegenwart, die
Naehe zu Maedchen, die fand ich einfach sehr angenehm. Beim
Spielen sie mal beruehren und ihnen ganz nah sein zu koennen, das
war einfach schoen. Von Karin habe ich dann mal ein Haarspangerl,
ein sogenanntes Froeschchen bekommen. Das wird nicht einfach ins
Haar gesteckt, sondern man knickt es, und dann sitzt es
wunderschoen, ohne herauszufallen im Haar. Es war violett und
hatte ein paar kleine, glitzernde Steinchen drauf. Damals hatte ich es
nie in meinem Haar. Es lag nur immer in unserer Wohnung bzw. in
meinem Zimmer herum. Es war von Karin, und ich war schon
gluecklich, es nur einfach geschenkt bekommen zu haben.
In der Nacht vor meinem vierten Geburtstag, da traeumte ich davon,
statt der 'bestellten' Supermanfigur eine Puppe, statt eines Pullovers
ein Kleid und statt einer Hose einen Rock geschenkt zu bekommen.
Dieser Traum ging natuerlich nicht in Erfuellung.
Irgendwann fing ich dann an, mir meine eigene Traumwelt
aufzubauen. Meine Kindergartenfreundinnen und die schoenen,
dicken Kataloge meiner Eltern halfen mir dabei. Ach uebrigens,
wenn ich so zurueckdenke, dann kommt mir so, dass mindestens die
Haelfte meiner sehr guten Kindergartenfreundinnen regelmaessig
Kleider bzw. Roecke anhatten. Und das, obwohl sicher 8 von 10
Maedchen damals ausschliesslich Hosen trugen. Zufall? Ich glaub's
fast nicht.
Ich weiss noch, wie ich immer mit dem Hinweis, ich wolle mir
Spielsachen ansehen, mir die dicken Kataloge meiner Eltern
(Quelle, Otto, Neckermann) zu mir ins Kinderzimmer holte.
Spielzeugwuensche aeusserte ich meinen Eltern gegenueber aber
nie. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, dass mich die
Spielzeugflut dieser Kataloge dazu bringen wuerde, meine Eltern zu
etwas ueberreden zu wollen. Denn dann haetten sie, so meinte ich
damals, mir vielleicht das ewige Geblaettere in diesen Katalogen
irgendwann verboten.
Als ich mit der Schule und mit dem Lesen anfing, da begann ich
auch unsere alten Kataloge zu sammeln. Damals glaubte ich, ich
wuerde sie so geschickt verstecken, dass meine Eltern nichts davon
merken wuerden. Ich habe sie immer aus dem Papiercontainer
'gerettet'. Doch einmal waren sie nicht mehr da, auch nicht mehr im
Papiercontainer. Ich war fertig. Meine Eltern merkten es und fragten
mich, was los sei. Na ja, ich sagte es ihnen. "Wie kann man nur so
an Spielzeugseiten eines Katalogs haengen?", stellte Mama damals
erstaunt fest. Was es denn gewesen waere, meinte Papa. Das koenne
ich nicht recht erklaeren, meinte ich daraufhin und sagte nur, dass
das, woran ich so haengen wuerde im neuen Quelle-Sommerkatalog
nicht zu finden waere.
Da ich echt niedergedrueckt war, und ich eigentlich nie wegen
einem neuen Spielzeug bei meinen Eltern bettelte, schlug man mir
vor, mit mir demnaechst in einer Grossstadt die
Spielwarengeschaefte abzuklappern. Mama erwartete da wohl einen
Begeisterungsschrei, Papa schaute mich nur einfach an. Erst brachte
ich nichts raus, und nachdem Mama nun endlich eine Reaktion auf
den Vorschlag von Papa hoeren wollte, da meinte ich nur, dass das
was ich gern gehabt haette ich mit Sicherheit in keinem
Spielwarengeschaeft wuerde finden koennen. Mama reagierte
unglaeubig und Papa sah mich mal wieder bloss interessiert(?) an.
Mit Mamas Reaktionen kam ich klar, doch Papas Blick liess mich
noch lange gruebeln.
Komischerweise war ich ab da Papi gegenueber immer etwas
aufgeschlossener, so dass er doch des oefteren merkte, dass ich
nicht ausschliesslich im hinteren Bereich der Kataloge
herumschaute, dort, wo die Spielsachen zu finden gewesen waeren.
Wenn mich Papi ins Bett brachte, so las er mir normalerweise noch
ein wenig aus dem Buch vor, das ich sowieso gerade las. Vor gut
einem Jahr aber, da sagte er mal zu mir, ihm koenne es auch mal
Spass machen, mit mir Abends im Bett einen Katalog anzusehen.
Als er zu mir ins Bett kam, da hatte ich bereits die Spielzeugseiten
aufgeschlagen. Er aber meinte, er wuerde ganz gern systematisch
von vorn bis hinten den Katalog durchblaettern. Nun, ich hatte
nichts dagegen. Insgeheim freute ich mich da auf eine ganz
bestimmte Katalogseite. Ich wusste nur nicht, wie ich ihn gerade auf
dieser Seite etwas beim Weiterblaettern wuerde bremsen koennen.
Auf den 'Damenseiten' blaetterte Papa eigentlich recht langsam. Na
ja, es waren ja auch die ersten Seiten des Katalogs. Die
Damenunterwaesche dagegen ueberflog er bereits recht zuegig. Als
dann die Kinderseiten anfingen sahen wir uns die ersten Seiten
wieder etwas genauer an, obwohl sie mich eigentlich gar nicht so
interessierten. Schliesslich war's ja nur Babybekleidung. Aber ich
sagte mir, wenn er bei diesen Seiten langsam blaettern wuerde, so
wuerde er es vielleicht bei 'meiner' Seite auch tun.
MEINE SEITE! Er hatte sie uebersprungen! Ich konnte es nicht
fassen. Papa uebersprang meine Seite. Das ging einfach nicht!
War's ihm etwa schon langweilig? Oder klebten da ein paar Seiten
zusammen? Ich weiss es nicht. Aber einfach meine Seite
ueberspringen? Nein, das ging nicht! Ihn extra aufmerksam machen
auf meine Seite, das konnte ich ja wohl nicht gut. Daher sagte ich,
dass wir uns nun bisher Seite fuer Seite angesehen haetten und dies
doch korrekterweise auch weiterhin tun sollten. "Na, wenn Du
willst", meinte er, "dann blaettere doch Du von nun an weiter." Um
das Ganze moeglichst cool und gelangweilt rueberzubringen schlug
ich vor, nochmal bei der Babybekleidung anzufangen.
Meinetwegen, meinte er. Viel lieber haette ich gleich bei der
Kinderbekleidung angefangen und mir dort mehr Zeit gelassen, aber
das ging natuerlich nicht. Aufgrund von Papas Kommentar auf den
Babyseiten, dass wir die doch schon gesehen haetten, blaetterte ich
ueber die schneller hinweg. Bei der Kinderbekleidung aber
versuchte ich dann moeglichst gleichmaessig, langsam, gelangweilt
vorwaertszublaettern. Wenn ich mir bei jeder dieser Seiten viel Zeit
lassen wuerde, so konnte ich mir auch auf meiner Seite viel Zeit
lassen. "Also, so werden wir ja bis Mitternacht nicht fertig,
Herbert", lachte Papa, "ein bisschen schneller waere nicht schlecht."
Somit blaetterte ich schneller. Und meine Seite war auch viel zu
schnell wieder weg. Nach dem Ansehen dieser Seite haetten wir von
mir aus den Katalog wieder schliessen und mit dem Kuscheln
anfangen koennen. Wir uebersprangen letztlich dann auch die
'Herrenseiten', die Kuechengeraeteseiten, usw. Eigentlich sahen wir
uns im hinteren Bereich des Katalogs dann nur noch die Spielsachen
und die Radios an.
Als mich Papa dann ein paar Tage spaeter wieder zu Bett brachte,
da hatte ich bereits unseren Otto-Katalog paratgelegt. Papa lachte,
als er es merkte. Dieses Mal hatten wir fuer das Wesentliche mehr
Zeit. Es war naemlich schon klar, was wir ansehen wuerden:
Damenbekleidung, Kinderbekleidung, Spielwaren, Radios. Bei
dieser kleinen Auswahl konnten wir uns fuer jede Seite relativ viel
Zeit nehmen. Da die Kataloge fuerchterlich viel Damenbekleidung
haben, bat ich Papa, dass wir uns doch von nun an fuer jeden
Bereich gleich viel Zeit nehmen koennten. Er war damit
einverstanden, und nachdem Papa mit mir zusammen sich rund 7
Minuten fuer die vielleicht 100 Seiten Damenbekleidung Zeit nahm,
konnte ich mir nun guten Gewissens auch 7 Minuten fuer die
Kinderbekleidung Zeit nehmen. Allerdings wuerde ich mir dann
fuer den Spielzeugbereich auch 7 Minuten Zeit nehmen muessen.
Ach, wie gern haette ich doch von dem Spielwarenbereich 5
Minuten abgezogen, um dadurch 12 Minuten fuer den
Kinderbekleidungsbereich Zeit zu haben. Aber das ging natuerlich
nicht.
Auch im Otto-Katalog hatte ich 'Lieblingsseiten'. Ob ich
womoeglich ganz unbewusst auf meinen Lieblingsseiten laenger
haengen blieb? Ich weiss es nicht. Jedenfalls gab es ab da dann noch
haeufig Abende, an denen ich mir mit Papa Kataloge ansah.
Irgendwann fing er dann auch mal an, sowohl die Damenbekleidung
als auch die Kinderbekleidung laut zu kommentieren und wollte
auch von mir meine Meinung hoeren. Na ja, zur Damenbekleidung
eigentlich nicht. Ihm war wohl klar, dass mir die einfach zu alt und
zu mama-, omamaessig vorkommen wuerde. Aber meine Meinung
zur Kinderbekleidung interessierte ihn schon.
Ob er meine Interessen aus meinen Antworten heraushoerte, ob er
sie lediglich vermutete, oder ob er einfach Ideen in den Raum stellte
und darauf wartete, wie ich reagieren wuerde, keine Ahnung.
Jedenfalls nahm er recht schnell wahr, dass mir besonders huebsche,
aber auch verspielte, bunte Kleidung wesentlich besser gefiel als -
na ja, eben als diese trieste, graue, oft mit aggressiven Gestalten
verunstaltete Bubenbekleidung.
Und ploetzlich stand dann seine Frage im Raum: "Koenntest Du Dir
vorstellen, mal so ein Kleid zu haben?"
BUMM! "Wie bitte?", fragte ich, wohl etwas zittrig. Mir wurde
heiss und kalt. Hatte ich das richtig verstanden? Wenn ja, wollte
sich Papa womoeglich ueber mich lustig machen? Aber dafuer war
er nicht der Typ, das wusste ich.
"Na ja, war bloss so eine Idee. Haette ja sein koennen. Waere an
sich ja nicht so schlimm."
Nicht so schlimm? Ich dachte, das waere geradezu eine
Katastrophe! Wenn ich's ihm jetzt nicht sage -- ich war ueberzeugt,
die obige Frage von ihm richtig verstanden zu haben -, dann ist
meine ganze Zukunft zerstoert, das wusste ich. Also nahm ich allen
Mut zusammen und sagte: "Eigentlich nicht so recht." "Wie gesagt,
haette ja sein koennen.", meinte er nun, und dabei blaetterte ich
gerade zwei Seiten zurueck, "aber das hier, das wuerde mir schon
sehr gefallen.", fluesterte ich und zeigte auf ein Maedchen mit
langem, blondem Haar mit Haarspangerl, weisser Feinstrumpfhose
und einem rosa Kleid mit kurzen Aermeln und Rueschen am
Kragen, an den Aermeln und am Saum.
Es war das erste Mal, dass ich Angst hatte, Papa wuerde mich nun
auslachen, demuetigen, beleidigen und ganz allgemein bloed
daherreden. Es war totenstill in meinem Zimmer. Nur meine kleine
Uhr am Tisch tickte vor sich hin. Sonst haette ich wohl geglaubt, die
Zeit waere ploetzlich zum Stillstand gekommen.
Ich wagte es nicht, Papa anzusehen. Nach vielleicht einer Minute
hoerte ich ihn fest aus und wieder einatmen. Er hatte doch glatt
die Luft angehalten. Jetzt ist alles aus, so dachte ich mir dabei.
Jetzt hab' ich's uebertrieben. Ich habe meinen Papi doch so lieb,
und ich Idiot muss unsere wunderbare Beziehung kaputt machen. Wie
konnte ich nur. Wie konnte ich ihm nur dieses fuerchterliche
Geheimnis von mir anvertrauen. Haette ich es doch niemals getan.
Oh, koennte ich es doch rueckgaengig machen! Den Abend einfach
ausradieren, vergessen. Schalter, klicks, und weg ist die
Information. So wie an dem alten Gameboy meines Bruders, wenn man
da vor dem Speichern des Spielstandes ausschaltet, dann sind die
Daten einfach weg.
Nie wieder wird unsere Beziehung so sein wie bisher. Ich bin kein
Bub, ich bin ein Waschlappen, eine Schwuchtel, eine Sau, ein
Arsch, ein Ekel, wie konnte ich nur?! Warum muss ich alles
Schoene kaputt machen? Papa wird mit mir nichts mehr anfangen
koennen. Ein Maedchen bin ich nicht, und ein Bub, tja, das bin ich
wohl auch nicht (mehr).
Ich vergrub mich unter meiner Bettdecke und fing zu weinen an.
Papa ruehrte sich nicht, das heisst, er verliess auch nicht fluchtartig
mein Zimmer. Irgendwann spuerte ich dann Papas Hand auf meiner
Decke, unter der ich verborgen lag. Zu dem Zeitpunkt, da
schluchzte ich nur noch. Das Weinen war da schon vorrueber. Doch
als ich ihn so spuerte, da fing ich wieder an. Wieso geht er nicht
einfach, so fragte ich mich. Und ich, ich schlafe jetzt am besten ein
und wache nie wieder auf. Oder ich laufe heute Nacht noch davon.
Was bin ich denn schon? Eine Missgeburt. Die wird meinen Eltern
eh nicht abgehen. Die werden froh sein, wenn sie mich los haben,
dann muessen sie sich nicht wegen mir schaemen.
Papa wollte mir die Decke vom Gesicht wegziehen. Aber ich hielt
sie ganz fest. "Geh halt! Du magst mich doch sicher jetzt eh nicht
mehr!"
"Wie kommst Du denn auf so einen Bloedsinn! Wenn Du Dich
nicht schon selbst so fertig machen wuerdest, dann wuerde ich Dich
jetzt fuer diesen Satz ganz gewaltig schimpfen. -- Und jetzt komm
endlich mal unter dieser Decke hervor!"
"Du willst mich schimpfen? Dann tu's halt. Hast ja auch allen
Grund. Kein Wunder, wenn Du mich nicht mehr magst und zornig
auf mich bist."
"Hei, Du, was soll denn das? Jetzt komm mal her. Und dabei packte
Papa mich samt Decke, setzte mich auf seinen Schoss und drueckte
mich ganz fest an sich. Irgendwie passte sein Verhalten nicht zu der
Meinung, die er nun meiner Ueberzeugung nach von mir haette
haben muessen. Schlagartig versiegten meine Traenen und mit
nassem Gesicht und etwas neugierig kam ich aus meiner
Deckenbehausung heraus. Papa laechelte mich an. Und da fingen
wieder die Traenen zu laufen an, dieses Mal aufgrund von
Glueckseeligkeit. Sein Laecheln war so ungeheuerlich mutmachend,
wohlwollend, liebevoll. Ich hatte das Gefuehl, er liebte mich noch
genauso sehr wie vorher.
"Vergiss einfach, was ich vorher gesagt habe, als wir uns die
Katalogbilder ansahen, ja, Papa?"
"Wenn Du meinst. Aber ich weiss nicht, ob ich das kann."
"Musst Du eigentlich auch nicht. Hauptsache, Du hast mich noch
genauso lieb wie vorher!"
"Na, wenn das alles ist, das ist kein Problem", und dabei drueckte er
mich so fest an sich, dass es glatt schon unangenehm war, und ich
war froh, als ihm mit der Zeit die Kraft ausging. Jedenfalls wusste
ich nun, dass mich Papa noch genauso lieb hatte wie gestern.
Ich nahm mir vor, nie wieder irgendwelche Kataloge anzusehen -
nicht einmal fuer Spielsachen. Wenn ich es schaffen wuerde, ein
halbes Jahr lang keine Kinderbekleidung mehr in Katalogen
anzusehen, dann wuerde ich vielleicht meinen Tick ueberwinden
und endlich normal werden -- so wie die anderen.
Das war damals der letzte Abend an dem Papa und ich uns
miteinander im Bett liegend einen Katalog ansahen. Natuerlich hat
er mich auch weiterhin immer wenn er Zeit hatte ins Bett gebracht.
Doch nie wieder habe ich einen Katalog im Bett gehabt, wenn Papa
kam um mit mir noch ein wenig zu kuscheln.
Abschnitt 2: Veraenderungen
Meinen Vorsatz mit den Katalogen habe ich uebrigens einige Zeit
durchgehalten. Wohl aber nur deshalb, weil ich
Ersatzbefriedigungen gefunden hatte.
Bisher hatte ich ebenso kurzes Haar wie mein grosser Bruder Klaus.
Waren sie erst mal 3 cm lang, so fand und findet er dies noch immer
fuerchterlich. Bis zu der Zeit mit den Katalogen eiferte ich Klaus in
gewisser Weise nach, so dass auch mein Haar genauso wie Klaus
seins regelmaessig von Mama mit einem Bartschneider geschnitten
wurde. Nachdem aber das mit den Katalogen war, und Papa ja
gesagt hatte, "waere an sich ja nicht so schlimm", da dachte ich
ploetzlich in anderen Bahnen. Auf einmal hatte ich so
"merkwuerdige" Tagtraeume. Ich meine Gedanken, die mir sehr gut
gefielen, die ich aber bis dahin bei ihrem Auftreten nie
weiterverfolgt hatte -- es durfte und konnte ja eh nicht sein. Nun aber
sah meine Welt ploetzlich ganz anders aus. Irgendwie farbenfroher,
bunter und schoener.
Die erste deutliche Veraenderung meiner Denk- und
Verhaltensweise merkte Mama beim naechsten Haareschneiden. Ich
wollte sie mir nicht schneiden lassen. Ich wollte keinen Stiftelkopf
mehr haben. Ich wollte eine Frisur, keinen Glatzkopf wie mein
Bruder. Dabei dachte ich an Haarspangerl, Zoepfchen und an einen
Haarreif, den ich da kuerzlich in einem Geschaeft gesehen hatte.
Mama verstand die Welt nicht mehr.
"Hey Herbert! Jetzt mache ich mir schon die Arbeit mit Klaus, und
der ganze Kuechenboden ist voller Haare, da kann ich sie Dir doch
auch gleich schneiden. Ich moechte nicht morgen dann von Dir
hoeren, dass Dir Deine Haare zu lang sind! Das wuerd' mich
gewaltig aergern."
Meine Antwort darauf: "Ich will sie mir heute nicht schneiden
lassen und morgen auch nicht."
"Na ja, wenn Du meinst.", war ihre einzige Reaktion darauf.
Am Abend nahm Papi erstaunt wahr, dass zwar die Haare von Klaus
geschitten waren, meine aber nicht. "Ja so was, was ist denn da los?
Mag sich Herbert von Dir seine Haare nicht mehr schneiden
lassen?", fragte Papa beim Abendessen Mama. "Schaut fast so aus",
meinte sie, "ich versteh's auch nicht so recht. Erklaer Du's Papa
selbst", meinte Mama und sprach mich dabei an. Neugierig sah
mich Papa an.
"Du hast mal gesagt Papa, dass die jungen Maenner mit den Glatzen
gewalttaetig waeren. Ich will aber keine Glatze, und die
Gewalttaetigkeit von einigen meiner Schulkameraden mag ich auch
nicht.", war meine Erklaerung.
"Da hoerst Du's", kommentierte Mama meinen Beitrag, "das kommt
doch nur davon, dass Du unseren Kindern immer zu viel 'Realitaet'
vermitteln willst."
Papa versuchte sich zu verteidigen: "Aber Herbert, das war doch nur
auf Skinheads bezogen. Es ist doch nicht jeder junge Mann mit
Glatze ein Krimineller. Und ausserdem schneidet Mama Euch doch
keine Glatzen. Schau Dir Klaus an, dem seine Haare sind doch
selbst unmittelbar nach dem Schneiden noch laenger als 1 cm." Und
schliesslich meinte er noch lachend: "Das waere ja interessant,
wenn sich irgendwann mal herausstellen wuerde, dass in der Regel
die kriminelle Neigung direkt proportional zum Kehrwert der
Haarlaenge ist. Aber nein, das ist natuerlich ein Schmarren! Also
vergesst das gleich wieder, ja?"
"Siehst Du Mama, wenn Du nicht willst, dass ich gewalttaetig
werde, dann muss ich jetzt meine Haare wachsen lassen.", meinte
ich daraufhin meine Mama belehrend. Die aber schuettelte nur noch
ihren Kopf und sah Papa vorwurfsvoll an.
Uebrigens bin ich blond, und was jahrelang nicht bemerkbar war ist,
dass ich eine kleine Naturwelle drinnen hab. Mein Haar haengt also
nicht glatt, spagettimaessig ueber meinen Ohren drueber, sondern ist
etwas gewellt, so dass ich naturgemaess etwas mehr 'Volumen'
habe. Gefaellt mir ganz gut.
Mama hat mir nebenbei erwaehnt seit damals nie wieder mein Haar
geschnitten. Ich wollte das nicht mehr, und ging von da an nur noch
mit Papa zum Friseur, wenn es zu Hause einfach nicht mehr
auszuhalten war.
Ach ja, dass ich mich nicht mehr gern beim Friseur sehen lasse, das
kann man sich wohl denken. Die wollen immer schnipseln. Mir aber
tut jeder Millimeter weh. Mir scheint, ich habe Nerven in meinen
Haaren. Wenn das die anderen wuessten, dann wuerden sie wohl
nicht so grausam drauflosschneiden. Aber es braechte wohl nichts,
wenn ich es ihnen sagte, sie wuerden's mir eh nicht glauben.
Damals, ich weiss noch, es war wohl das zweite Mal, dass ich da
mit Papa zum Friseur ging. Ich trug meine schoene, leicht
glaenzende Cordsamthose und einen duennen Pulli. Peter, der
inzwischen ganz gern mit 'Petra' angesprochen wird, wollte
unbedingt auch mit zum Friseur. Also nahm ich ihn halt mit. Wir
fuhren nicht mit dem Auto, sondern gingen zu Fuss dort hin. Auf
dem ganzen Weg wollte Petra Hubschrauber, Biene, Flieger oder
was weiss ich sein. War fast schon anstrengend, sie immer mit Hilfe
meiner Haende bzw. Arme fliegen zu lassen. Aber es war eigentlich
auch ganz nett, dass sie dabei war.
An einer Zeugin Jehova gingen wir vorbei, die ihre Heftchen
praesentierte, und Papa gruesste recht nett. "Das ist aber schoen,
dass sich Dein Papa fuer Dich Zeit nimmt, nicht?", meinte sie und
sah mich dabei an. "Sag mal, hat der auch einen Namen?", fragte sie
mich und sah dabei auf meinen kleinen Sohn. 'Petra' sagte ich etwas
verlegen und drueckte meinen Schatz ganz fest an mich. "Der ist ja
suess", meinte sie noch, da aber waren wir schon bald wieder ausser
Kommunikationsreichweite.
"Ich moechte wetten, die hat Dich fuer ein Maedchen gehalten",
meinte Papa schmunzelnd. "Glaub' ich nicht", entgegnete ich, hoffte
aber fast ein wenig, dass Papa Recht hatte.
Falls es einer noch nicht wissen sollte, Peter ist mein kleiner Sohn
und er hat eine Mami, die er ganz, ganz, ganz lieb hat. Aber was
rede ich da, ich habe ihn ja auch ganz, ganz, ganz lieb. Und ganz,
ganz, ganz ehrlich gesagt ist er eigentlich ein kleiner Stoffbaer.
Aber in Wirklichkeit ist er mein kleiner Sohn, mein Sohn, der
eigentlich lieber ein Maedchen waere und deshalb wohl auch ganz
gern mit 'Petra' angesprochen wird. Nein, er hat noch keine
Maedchenwaesche. Papa und ich sind der Meinung, dass wir damit
noch ein wenig warten sollten. Es koennte ja sein, dass er seine
Meinung zu Thema 'Maedchensein' doch bald wieder aendert, und
wir wollen ihn ja nicht unbewusst in etwas hineindraengen, was er
eigentlich gar nicht wirklich will.
Als wir dann endlich beim Friseur angekommen waren, da hatte ich
echt schon muede Arme. Ja, ich weiss schon, man sollte kleine
Kinder nicht so verwoehnen, aber wenn er bzw. sie sich schon mal
die Zeit nimmt, mit mir zum Friseur zu gehen, vielleicht auch
deshalb, damit es mir nicht so langweilig ist, dann ist es wohl
auch nicht so schlimm, wenn ich sie mal etwas verwoehne.
Kurz bevor wir das Geschaeft betraten teilte mir Papa noch im
Vertrauen mit, dass es durchaus moeglich waere, mal auf Personen
zu stossen, die mich fuer ein Maedchen halten, bzw. Personen, die
sich ueber meine gewuenschte Frisur lustig machen koennten. So
zum Beispiel moeglicherweise da drin im Friseurladen. "Kommst
Du damit klar?", fragte mich Papa. "Ja", meinte ich nur und war
drin. Wir mussten etwas warten, und sahen uns gemeinsam einen
Brautkleiderkatalog an, der dort auslag. Auf so einer Doppelseite
waren regelmaessig mehrere Braeute zu sehen und jeder suchte sich
dann immer 'seine Lieblingsperson' aus. Wenn wir uns beide
entschieden hatten, dann sagten wir uns gegenseitig unsere
Entscheidung und die dazugehoerige Begruendung. Schade, der
Katalog war viel zu duenn. Hinten war dann naemlich nur noch
Werbung, und mit der konnten wir nichts anfangen.
Dann kam ich dran. Papa packte gerade Peter in seine Tasche, als
ich bereits zu einem Stuhl gefuehrt wurde. Ich moechte wetten, dass
mindestens 4 Friseurinnen um mich herumstanden als ich mich auf
dem Stuhl zurechtsetzte und den Umhang umgebunden bekam.
"Bist Du jetzt ein Bub oder ein Maedchen?", wurde ich von einer
von ihnen gefragt. "Ein Bub", antwortete ich daraufhin. Ob mir die
Frage peinlich war? Nein, war sie mir nicht. Ich weiss schon, wohl
fast alle meiner Schulkameraden waeren bei dieser Frage knallrot
geworden. Wurde ich nicht, und um ehrlich zu sein, ich haette mir
kaum ein bezaubernderes Kompliment vorstellen koennen, als eine
solche Frage gestellt zu bekommen.
Ich bin anders als die anderen. Ich bin nicht normal. Mit mir stimmt
was nicht. Ich bin abartig. Ueber meine Traeume und Wuensche
kann ich mit anderen nicht reden. Das hat sich zwar inzwischen ein
wenig geaendert, aber so richtig offen ueber meine Traeume kann
ich nur mit Papa sprechen. Eigentlich komisch, wo er doch ein
Mann ist. Normalerweise moechte man doch meinen, muesste ich
diesbezueglich zu meiner Mama einen besseren Draht haben als zu
Papa. Aber das Besondere an Papa ist wohl, dass er selbst das Wort
'Macho' nicht ausstehen kann. "Alles anerzogen", sagt er
manchmal, und meint damit, dass sowohl das Machogehabe von
Buben und Maennern genauso ein Symptom ungeschickter
Erziehung waere, wie auch das 'Heimchen-am-Herd'- und
'Ich-habe-Angst'-Verhalten von so manchen weiblichen
Personen.
Papa ist uebrigens auch anders als die anderen Vaeter, die ich so
kenne. Wobei, eigentlich kenne ich meinen Papa erst so richtig seit
rund zwei Jahren. Vorher war er immer beruflich unterwegs und
kam selbst an den Wochenenden kaum nach Hause. Abgegangen ist
er mir damals eigentlich kaum. Ich kannte es ja nicht anders. Nun
aber ist es schon bald so, dass mich Papa oefter ins Bett bringt als
Mama. Und inzwischen kann ich es mir schon gar nicht mehr
vorstellen, dass Papa mal ploetzlich zwei Tage lang ununterbrochen
weg ist.
Ach ja, die Kataloge. Lang hatte ich es nicht ausgehalten, sie nicht
mehr anzusehen. Aber meine Traeume und Wuensche wurden ja
mehr oder weniger von meinen Eltern akzeptiert. Warum also sollte
ich mich selbst quaelen? Ein neuer Katalogbereich, den ich mir gern
ansehe, ist inzwischen dazugekommen: Schmuck.
Nur im Geheimen sehe ich mir die Kataloge inzwischen nicht mehr
an. Vor rund einem Jahr ging das mit dem Schmuckinteresse bei mir
los. Meinem Papa sagte ich, dass ein Schueler einer anderen Klasse
Ohrringerl haette. Darauf mein Papa: "Das haben doch heutzutage
viele junge, maennliche Personen." "Ja, aber der hat zwei!", meinte
ich. "Willst Du damit sagen, dass Du Ohrringerl moechtest?", fragte
Papi. Dieses Gespraech duerfte so Mitte letzten Jahres gewesen
sein, also einige Zeit nach meinem 8. Geburtstag.
"Na ja, das ueberlegst Du Dir wohl erst noch mal.", meinte Papa.
Wenn Du's Dir erst mal einen Monat gewuenscht hast, dann
koennen wir nochmal darueber reden.
Einen Monat also musste ich noch auf meine Ohrringerl warten! Ich
wusste nicht, wie ich das aushalten sollte. Als dann das Monat
vorueber war, da bemerkte Papa, dass ich noch immer von Schmuck
begeistert war. Also sprach er mit Mama. Die aber meinte, dass es
keinen Grund gaebe, in der Mitte des Jahres fuer Herbert eine
Menge Geld auszugeben. Es waere ja nicht nur das Stechen,
sondern auch der Schmuck selbst, der eine Menge Geld kosten
wuerde. Mit anderen Worten, ich sollte bis Weihnachten auf meine
Ohrringerl warten. Ich weinte, und Papa versuchte mich zu troesten.
Ich fuehlte mich wohl in Papas Armen -- wie ein kleines Maedchen.
Aber troesten konnte er mich eigentlich dennoch nicht. Ein halbes
Jahr! Eine Ewigkeit!
Das halbe Jahr dauerte wirklich lange. Waehrenddessen vertraute
ich Papa an, dass das rosa Spitzenkleid noch immer in meinen
Traeumen vorkommen wuerde. "Schau' 'ma mal.", meinte er. Na ja,
eine Zusage war dies wohl nicht direkt. Aber eine Absage war es
eindeutig auch nicht.
Gegen Herbst zu kam dann ploetzlich Papi auf mich mit einem
Katalog zu und meinte, was ich denn von diesem Kleid hier halten
wuerde. Es war ein ganz einfaches, dunkelblaues
Baumwollkapuzenkleid mit zwei vorn aufgenaehten,
zusammenhaengenden Taschen.
Na ja, so ganz so mein Geschmack war es eigentlich nicht. Dieses
Kleid gab es in 5 Farben. Ich schlug daraufhin das rote vor. Aber
Papa meinte, dass das nun fuer den Anfang wohl doch etwas zu
gewagt waere. Unsere Familienmitglieder muesse man wohl erst
mal an einen 'Herbert in einem langen Pulli mit Strumpfhose' bzw.
an einen 'Herbert in einem aeusserst dezenten, zurueckhaltenden
Kleid' gewoehnen. Wenn ich damit einverstanden waere, und ich es
in einem Monat auch noch immer wuerde haben wollen, dann
wuerde er es mir kaufen, so sagte er mir. Das war doch ein
Versprechen, oder? Papa hielt Versprechen immer! Wenn bei ihnen
auch manchmal eine Verzoegerung eintrat.
Was soll ich sagen? Einen Monat spaeter wollte ich natuerlich noch
immer dieses von Papa ausgesuchte Kleid. Es war wirklich das
primitivste, einfachste, einfarbige Kleid, das ich mir vorstellen
konnte. Aber immerhin, es war ein Kleid, es war ein Anfang! Mein
doch schon bald schulterlanges Haar dazu und nette,
runterbaumelnde Ohrringerl mit rot-goldenen Junikaeferchen dran,
das koennte schon ganz nett aussehen, so dachte ich mir.
Tja, und dann kam's: Papa sagte zu mir, dass er anonym ueber's
Internet mit anderen ueber mich gesprochen haette, und dass die der
Meinung gewesen waeren, er sollte mir das Kleid nicht einfach
bestellen, sondern er solle mit mir in ein Geschaeft gehen und es
mich anprobieren lassen. Wenn ich dabei kneifen wuerde, so waere
dies das Zeichen, dass es mir mit Kleidern nicht so ernst waere.
Als mir Papa diese Empfehlung bzw. diesen Vorschlag
unterbreitete, da fragte ich nur: "Und wann gehen wir?" Diese
Reaktion fand Papa so faszinierend, dass er spontan zu lachen
anfing. Ich verstand nicht, was mit Papi los waere und zog eine
etwas beleidigte Miene. Ich dachte, er wuerde ueber mich lachen,
bzw. mich auslachen, wusste aber nicht weshalb. Papi bemerkte
dies, kam zu mir runter, umarmte mich und erklaerte mir, dass er
bereits im Internet jemandem erzaehlt haette, dass diesen Test sein
Sohn sicherlich mit Bravour bestehen werde. Als ich dann die oben
erwaehnte Frage stellte, da konnte er nicht anders als ueber meine
Frage lachen. Diese Frage von mir, die war in seinen Augen wohl
eine noch groessere Zusage zum Thema Kleider als alles andere,
was er sich als Reaktion auf seinen Vorschlag von mir hatte
vorstellen koennen.
Am darauffolgenden Samstag fuhren Papa und ich dann mit dem
Zug nach R.. Es war ein toller Tag. Manchmal frage ich mich, ob
ich diesen Tag als geheimen zweiten Geburtstagstag fuer mich
selbst feiern sollte. Einen so mein Leben beeinflussenden Tag wie
diesen hatte ich mein Leben lang noch nicht, und werde ich wohl
auch nie wieder haben. Aber ist eigentlich logisch, wie oft wird man
denn schon geboren. Normalerweise nur ein einziges Mal. Und bei
diesem einen Mal ist man noch so jung -- um genau zu sagen O Tage
alt -, dass man sich spaeter daran gar nicht mehr erinnern kann. Ich
dagegen durfte quasi meine eigene Geburt, die Geburt von 'Karin'
miterleben. Das war echt der Wahnsinn. Nein, das Wort gefaellt mir
nicht. Sagen wir lieber also mal: Das war echt super schoen, toll,
wunderbar, fantastisch, traumhaft, ... Aber dieser eine Tag, mein
eigentlicher Geburtstag, der ist eine eigene Geschichte. Vielleicht
schreibe ich sie mal nieder, vielleicht auch nicht, ich weiss es noch
nicht. (In gewisser Weise existiert sie sogar schon -- in gewisser
Weise.)
An jenem Tag jedenfalls bekam ich dieses eine oben schon
erwaehnte dunkelblaue Kleid und auch noch alles andere, was an
einem Herbsttag eben so fuer ein kleines Maedchen wie mich
notwendig war. Ob ich da im siebten Himmel war? Nein, wohl
nicht, das war mindestens schon der vierzehnte!
Habe ich meinen Ohrringerlwunsch schon erwaehnt? Na jedenfalls
flammte aufgrund von diesem einen Tag die Sehnsucht nach
Ohrringerl wieder so sehr auf, dass ich wochenlang meinen Papa in
jedes Geschaeft hineinzog, in dem ich vermutete, dass es Ohrringerl
geben koennte. Irgendwann hatte ich ihn dann so weit, dass er sich
nach dem Stechen von Ohrringerlloechern erkundigte. So um die 50
DM herum wuerde das Stechen kosten, wurde ihm gesagt, doch riet
ihm eines der Schmuckgeschaefte gewaltig davon ab, seiner Tochter
diesen Wunsch jetzt in der kalten Jahreszeit zu erfuellen. Die
Gefahr einer Infektion mit einer darauffolgenden Vernarbung des
Ohrlaeppchenloches waere in der kalten und auch in der besonders
heissen Zeit einfach groesser als sonst, und das, so meinte damals
die Geschaeftsleiterin, das muesse man einem kleinen Maedchen ja
nicht zumuten. Zum Schluss koennte dann womoeglich ein erneutes
Stechen notwendig werden, und das waere dann doch sehr
bedauernswert.
Ich glaubte nicht recht zu hoeren. Sollte das etwa heissen, dass ich
nun ein halbes Jahr wegen Mama habe warten muessen, um dann zu
erfahren, dass Papa das Risiko eines Ohrringerllochstechens bei mir
in der kalten Jahreszeit nicht eingehen wuerde?
Aus Ohrringerl zu Weihnachten sollte also nichts werden. Oh,
welche Enttaeuschung! In der darauffolgenden Zeit hatte Mama oft
mal Probleme, mir mein Kleid zu waschen, weil ich es eigentlich
jeden Tag tragen wollte. Dies fuehrte dann dazu, dass Mama ihr
Waeschewaschen auf den spaeten Abend verschob, um dann vor
dem Zubettgehen noch schnell mein frisch gewaschenes Kleid an
einem Kleiderbuegel ueber einer Heizung aufzuhaengen, damit es
am naechsten Tag wieder anziehbar war.
Ich trug es uebrigens etwas aufgeregt auch im Garten draussen. Ja,
ich wollte, dass mich meine Nachbarn sehen. Ich wollte keine
Geheimnistuerei machen. Es ist doch schliesslich nichts Schlimmes,
wenn ich ein Kleid trage, oder? Ich wollte akzeptiert werden, so wie
ich bin, so wie ich mich fuehle. Dass ich seit dem R.-Ausflug von
Papa als sein kleines Maedchen, seine Karin gesehen werde, das soll
auch jetzt noch niemand erfahren. Das ist ein schoenes Geheimnis,
kein belastendes. Vielleicht sage ich's mal so, das ist ein suesses
Geheimnis. Mama und Klaus gegenueber ist es natuerlich keins,
schliesslich lege ich sehr viel Wert darauf, von Papa als seine Karin
angesehen zu werden. Und sollte er mal versehentlich 'er' oder
'Herbert' sagen, und ich kriege das mit, dann kriegt er von mir
gleich was zu hoeren!
Das Hinausgehen in den Garten im Kleid, das begeisterte Mama
schon gar nicht. Und auch heute kommt sie damit noch nicht recht
klar. Ausfluege als Karin mache ich eigentlich ausschliesslich mit
Papi. Ach ja, erst gestern Abend sagte ich ihm, dass mir die
Ausfluege mit ihm recht abgehen wuerden. Dass ich einfach an R.
haengen wuerde, ich so gern mal wieder in Geschaeften
herumbummeln wuerde, ich mich mal wieder danach sehnen
wuerde, neue Kleider anzuprobieren -- muessen ja nicht gleich
gekauft werden -, und einfach ueberhaupt das mit ihm
Unterwegssein, das wuerde mir sehr abgehen. Als ich damals damit
anfing, im Kleid in unseren Garten zu gehen und auf unserem
Garagendach herumzuspielen, da kam Papa mal mit einem Film mit
dem Titel "Ein Leben in Rosarot" daher. Er hatte schon mal was von
dem Film erwaehnt, nun aber, so meinte er, waere es in seinen
Augen aeusserst sinnvoll fuer mich, wenn ich ihn mir sehr genau
ansehen wuerde. Unsere Gesellschaft, so meinte er, wuerde recht oft
recht gemein auf Leute reagieren, die so Neigungen haetten wie ich
sie habe.
Ganz wichtig, so meinte er, waeren die Reaktionen der Aussenwelt,
die Ludovic in diesem Film erleben muesse. Nun, ich habe ihn mir
angesehen. Nach dem Ansehen dieses Films war ich dann wieder
draussen im Garten. Papa schuettelte nur wohl etwas verweifelt
seinen Kopf. Tags darauf sollte ich mir den Film noch einmal
ansehen. Nun, es ist nicht der einzige Film, den ich bisher mehrmals
angesehen habe. Da sind zum Beispiel die Filme "Doppeltes
Lottchen" und die DUDU-Filme meines Papas, die ich sicherlich
schon dreimal gesehen habe. Nun, Papa wollte es, also sah ich mir
den Film eben nochmals an. War kein Problem. Zum einen gefiel er
mir sehr gut -- ich kann in dem Film so richtig gut mit Ludovic
mitfuehlen, und zum anderen war es was Besonderes, am Vormittag
mal Fernsehen zu duerfen. Ob ich damals an jenem Tag
Herbstferien hatte, oder ob ich mich nun irgenwie um ein paar Tage
hier beim Schreiben vertue, ich weiss es nicht so recht. Jedenfalls
habe ich mir den Film beim zweiten Mal an einem Vormittag
angesehen.
Ein paar Wochen spaeter wollte Papa erneut, dass ich mir den
Ludovic-Film ansehe. Dabei sprach er mit mir ein paar sehr ernste
Worte zu den Themen Verachtung, Homosexualitaet, Gewalttat,
Verlust von Freunden und ueber einen irgendwann mal vielleicht
notwendig werdenden Wohnungswechsel, siehe "Ein Leben in
Rosarot".
Ob das mehrfache Ansehen dieses Films was gebracht hat? Aber
sicher doch! Ich liebe diesen Film. Abschreckend finde ich ihn
nicht. Er hat ein tolles Happy-End. Ach ja, was er gebracht hat:
Anfangs wollte ich nur Kleider, nun gefalle ich mir auch ganz gut in
einem Rock mit huebschem Oberteil. Ausserdem liebe ich
rosafarbenen Nagellack. Leider wage ich es nicht, mit so huebsch
lackierten Fingernaegeln in die Schule zu gehen. Aber die
Zehennaegel, die sind schon hin und wieder mal schoen gepflegt ein
Muss!
Wie war das mit der XX- und XY-Sache? Also, manchmal habe ich
schon auch den Eindruck, dass an meinem zweiten X lediglich ein
Beinchen abgebrochen ist. Aber eigentlich stimmt das doch nicht
ganz. Ich weiss, dass ich in Wirklichkeit ein Bub bin. Und wenn mir
das dann mal wieder so richtig bewusst wird, dann werde ich immer
ganz traurig und niedergeschlagen. Und dann kann ich mich auch
nicht aufheitern indem ich mir eines meiner huebschen Kleider -- ja,
inzwischen sind es schon mehrere -- anziehe. Dann will ich naemlich
gar keins anziehen! Ich bin ja schliesslich nur ein Bub. Mir als Bub
steht so was Huebsches ja gar nicht zu. So was habe ich ja
eigentlich gar nicht verdient. Und dann haut's mich noch weiter
runter.
Themawechsel.
Abschnitt 3: Orthopaedenbesuch
Ende letzten Jahres hatte ich mal eine Fussverletzung. Was fuer
eine? Keine Ahnung. Ich weiss nur, dass sie ungeheuerlich weh
getan hat. Ein Auftreten auf meinen rechten Fuss war unmoeglich.
Ein Bewegen ebenfalls. Selbst im Bett wusste ich oft nicht, wie ich
ihn hinlegen sollte, damit er nicht weh tat. Das dauerte mehrere
Tage. Meine Eltern hofften, es wuerde wieder vergehen. Aber eines
Morgens stand ich nicht mehr auf. Als mir Mama aufhelfen wollte
schrie ich wie am Spiess. Papa muss an jenem Tag frei gehabt
haben, jedenfalls hat mir Mama beim Anziehen geholfen und Papa
hat mich dann ins Auto getragen und ist mit mir zu einem
Knochendoktor gefahren. Ich glaube, solche Aerzte nennt man
Orthopaeden. Da dort mussten wir erst ewig warten und dann
durften wir endlich in ein Behandlungszimmer hineingehen. Die
Sprechstundenhilfe legte meine Karteikarte auf den Arzttisch und
sagte zu meinem Papa, dass es sinnvoll waere, wenn sein Kind, also
ich, bereits die Hose ausziehen wuerde. Auf der Lederliege waere es
mit nackten Beinen schon etwas unangenehm gewesen, aber da ich
noch eine nette, vorwiegend dunkelblaue Ringelstrumpfhose mit
roten und gruenen Ringelchen anhatte war es auch ohne Hose ganz
schoen da drauf.
Als dann der Doktor hereinkam, uns begruesste und auf dem Weg
zum Tisch, zur Karteikarte war, da fragte er gleich, "was hat's 'n?"
Als er dann aber die Karteikarte in der Hand hielt sagte er gleich
noch einen weiteren Satz, mit dem er seine anfaengliche mit der
vorherigen Frage zum Ausdruck gebrachte Vermutung, ich waere
ein Maedchen, schnell korrigierte. Er fragte, "hat 'a sich beim Sport
verletzt?". Ab dann war ich fuer ihn ein 'er'. Das aber interessierte
mich nicht mehr so recht. Mir ging immer diese eine Frage durch
den Kopf, "was hat's 'n?". Und wie man sieht, ich habe sie noch
immer nicht vergessen. Sie drueckt aus, dass er mich anfangs mit
meinem schwarzen Pulli mit drei seidig glaenzenden, roten Herzerl
drauf und meiner Ringelstrumpfhose fuer ein Maedchen gehalten
hatte. Ich kenne Buben, die wuerden bei so was einen hochroten
Kopf kriegen und diese Kleidung nie wieder anziehen. Und ich? Ich
sage mir den Satz immer und immer wieder leise vor mich hin, weil
er fuer mich noch viel suesser klingt als das Glockenspiel mit
wunderbaren, kleinen Glasgloeckchen. Diese Frage, sie klingt
bezaubernd. Als ob Waerme in ihr stecken wuerde. Sie beruehrt
mich, so wunderbar empfindsam, zoegernd, zurueckhaltend, nicht
dominierend, sondern aeusserst liebevoll.
Danach war beim Doktor wieder Realitaet, der Ernst des Lebens.
Aber immer wieder kehre ich gern gedanklich zu dem Moment
zurueck, wo der Doktor meinem Papi diese eine Frage stellte. Ja, ich
traeume gern. Ich traeume gern von einer anderen Welt, davon, dass
ich ein Maedchen bin, bzw. wie ich mit der Hilfe einer Fee zu
einem echten Maedchen werde. Diese Traeume sind nicht nur
Tagtraeme, sondern ich habe manchmal auch das Glueck, nachts
das Realitaet werden zu lassen, was mir meine Eltern nicht mal fuer
das ganze Geld auf dieser Erde ermoeglichen koennten. Das, was
ich mir ertraeume, das ist nicht ein Drag-Boy oder gar das Resultat
einer Operation zu sein. Ich traeume von einer Fee, die mich lieb
hat, und die bereit ist, mir einen Wunsch zu erfuellen. Da man bei
Wuenschen, die einem Feen realisieren, bekanntlich sich nicht
weitere freie Wuensche wuenschen darf waere es fuer mich ganz
klar, was ich mir wuensche wuerde: "Ich moechte gern ein echtes,
richtiges Maedchen sein."
Ach ja, vom Doktor bekam ich damals eine Woche Schulbefreiung.
Nach dieser Woche sollten wir dann bei ihm nochmal vorbeisehen.
Als ich da dann erneut im Behandlungsraum ohne Hose dasass, da
sagte ich zu Papa, der schon wieder dabei war, dass ich beim
naechsten Mal gern als Maedchen zum Doktor gehen wuerde. Zu
diesem Zeitpunkt war Papa bereits schon mehrmals mit mir als
Karin weg gewesen. Bis dahin hatten wir bereits miteinander
Spaziergaenge gemacht, gemeinsame Abendessen in Restaurants
gehabt, am Bummeln in der Stadt mit Kleideranproben Spass
gehabt, und ich hatte sogar schon an einem Lampionzug
teilgenommen. Aber von einem Besuch beim Arzt als Maedchen,
davon schien er nicht viel zu halten. "Wie soll denn das gehen?",
fragte er mich, "ich kann doch nicht sagen, Karin ... braucht einen
Termin. Bei unserer Krankenkasse ist naemlich keine Karin ...
registriert. Nein Karin, das haut einfach nicht hin. Wenn Du
irgendwann mal den Mut haben solltest, dazu zu stehen, dass Du als
Bub gern huebsche Kleider traegst, dann ginge das vielleicht. Aber
dann kann ich Dich wieder nicht als Karin ansprechen. Und wenn
ich Dich dann mit 'Herbert' rufe, dann schauen wieder alle ganz
bloed, und womoeglich wird mir dann vorgeworfen, wir wuerden
uns ein Maedchen wuenschen und Dich quasi mit psychischem
Druck gewaltsam in eine Maedchenrolle zu stecken versuchen. Was
natuerlich Quatsch waere, weil wir in so einem Fall Dich natuerlich
dann niemals mit einem Bubennamen ansprechen wuerden. Nein
Karin, glaub' mir's, so gern ich Dir diesen Wunsch erfuellen
wuerde, es geht einfach nicht."
Damals dachte ich nur, 'schade'. Heute kann ich darueber laecheln.
Warum? Na, vielleicht schreibe ich's ja noch.
Abschnitt 4: Maedchenunterwaesche
"Maedchenunterwaesche", das war damals auch so ein Thema!
Heute ist sie bei mir eine Selbstverstaendlichkeit ueber die gar nicht
mehr gesprochen wird. So nach dem Motto, "was soll ich denn sonst
anziehen?". Aber am Anfang -- das war gar nicht so einfach.
Als ich damals mein erstes Kleid geschenkt bekommen habe, da
war mir klar, dass dazu keine Bubenunterwaesche passen wuerde.
Ich stellte mir da was Huebsches, Seidiges, einfach was
Maedchenhaftes vor. Ja, ich weiss schon, das dunkelblaue
Baumwollkleid war wirklich nicht "festlich". Aber jenes Kleid habe
ja eigentlich nicht ich mir ausgesucht sondern Papa. Ich haette
damals schon eins gewusst -- ach ja, das war die Katalogzeit :-) -- na,
die ist gluecklicherweise nun vorbei. Jedenfalls waere das damals
von mir ausgesuchte Kleid ein dunkelblaues, glaenzendes Kleid mit
Spitzen und einem Bolero gewesen. Aber das war damals eben noch
nicht erlaubt. Oh Maedchen, haben sich die Zeiten geaendert!
Trotzdem, als ich damals in R. "geboren" wurde, da machte ich
schon deutlich, was mir da gedanklich so an Unterwaesche
vorschwebte. Ich versteh's selbst nicht so recht. Ich wusste was ich
wollte und das, obwohl ich so eine Unterwaesche eigentlich doch
noch nie gesehen, geschweige denn in den Haenden gehalten hatte.
Ob das Intuition war, oder ob in meinem Sissy-Programm da oben
im Kopf genetisch bestimmtes Unterwaeschenmaterial
ROM-maessig abgespeichert ist? Ich weiss es nicht. Ich traeume ja
auch von weit schwingenden Roecken, und das, obwohl die
Maedchen fast ausschliesslich Hosen tragen und wenn's doch
zufaellig mal ein Kleid ist, dann mit Sicherheit kein weit
schwingendes mit Petticoat oder so.
Natuerlich war mir das Wort Petticoat frueher noch nicht bekannt.
Und dennoch wusste ich auch damals schon, dass ich so was unter
meinen Kleidern tragen wollte. Ja wirklich, ein bisschen muss ich
nun nachtraeglich doch schmunzeln. Was fuer Traeume ich so hatte
und was sich mit der Zeit -- na ja, ist eigentlich recht schnell
gegangen, zumindest in den Augen meiner Eltern -- bei mir so alles
geaendert hat. Ja, ich kann eigentlich ganz zufrieden sein. Ich habe
meine Eltern gut erzogen. Sie waren aber auch lernwillig, offen fuer
Neues, flexibel und anpassungsfaehig. Mit meinen Eltern habe ich
wirklich einen guten Fang gemacht. Nun, an sich zieht Mama noch
immer nicht ganz so, wie man's sich an meiner Stelle wuenschen
wuerde, aber bezogen auf andere Eltern gesehen macht sie sich
eigentlich nicht schlecht. Nein wirklich, ich will jetzt nicht
schleimen, aber meine Eltern, auch meine Mama, die sind wirklich
super!
Aber wollte ich nicht was von Maedchenunterwaesche erzaehlen?
Also, da in R. bekam ich damals meine erste
Maedchenunterwaesche. Papa hat sich's nicht leicht gemacht, und
schliesslich waren wir endlich in einem Geschaeft, in dem ich
Unterwaesche fand, die ich fuer die Richtige hielt. Auf das
Preisschildchen sah ich damals nicht. Mama war bei den Einkaeufen
nicht dabei. Sie wuerde sich schaemen, meinte sie, wenn sie mit
ihrem Sohn bei der Maedchenunterwaesche herumkramen wuerde.
Diese Unterwaesche, sie war bzw. ist einfach toll. Jedoch habe ich
sie noch fast nie getragen. Sie ist wohl eigentlich mehr zum
Ansehen. Dieses Unterwaescheset, so verriet mir damals mein Papa,
habe 50 DM gekostet! Das sagte er mir, als ich ihn bat, mir noch
weitere solche Sets zu kaufen. Das verschlug mir dann doch etwas
die Sprache. Aber ich wollte doch so gern Maedchenunterwaesche!
Ein paar Tage spaeter kaufte mir Papa zwei
Maedchenunterwaeschesets fuer insgesamt weniger als 20 DM. Sie
waren nicht aus Meryl und fassten sich nicht so toll an, aber meine
Eltern meinten, dass dieses seidige Waeschezeug fuer die kalte
Jahreszeit eh nicht sinnvoll waere. Davon liess ich mich
ueberzeugen. Und die Sets, die mir da Papa mitgebracht hatte, die
waren wirklich nicht uebel! Die Beinabschluesse der Slips und die
Aermelabschluesse der Hemdchen waren spitzenbesetzt. Auf dem
rosa Hemdchen stand "Pretty Girl" drauf, und auf dem hellblauen
Hemdchen war oben am Kragen in der Mitte ein Satin-Schleifchen
und beim Hoeschen ebenfalls. Das, so erkannte ich sofort, war auch
keine "normale" Maedchenunterwaesche. Also, mit der konnte ich
mich durchaus schnell anfreunden!
Bei uns zu Hause wird taeglich am Abend nach dem Duschen die
Unterwaesche gewechselt. Nach zwei Tagen jammerte ich, dass ich
keine Unterwaesche mehr haette. "Was ist los?", fragte Mama
unglaeubig. "Ich habe keine Unterwaesche mehr", klagte ich,
nachdem ich losgeschickt worden war, mir frische Unterwaesche zu
holen und ins Bad zum Waschen zu gehen. "Das gibt's doch nicht!",
meinte Mama und stuermte los zu mir ins Zimmer um selbst
nachzusehen ob das stimmte, was ich da behauptete.
Ich weiss schon, da bergte Bubenunterwaesche in etwa meiner
Groesse in einer meiner Schubladen. Ich verstand selbst nicht, wie
die da hinkam und was die da in meiner Schublade sollte. Meine
Unterwaesche jedenfalls war das nicht! "Was ist denn jetzt los?",
wollte Mama wissen. Daraufhin sagte ich ganz kleinlaut, dass ich
keine Maedchenunterwaesche mehr haette. "Herbert, jetzt ziehst Du
Dir bitte diese Unterwaesche hier an", und dabei gab sie mir ein
richtiges Bubenunterwaescheset, das eigentlich gar nicht ganz so
uebel aussah und versprach mir, "und ich verspreche Dir, dass ich
Dir bis morgen Abend Deine beiden Maedchensets wieder waschen
werde".
Am naechsten Tag sagte mir dann Mama, dass sie mit Papa ueber
meine Unterwaesche gesprochen haette, und dass sie beide der
Meinung waeren, zwei Maedchensets muessten vorerst mal
genuegen. Mama versprach, dass ich Maedchenunterwaesche nicht
weniger oft wuerde tragen koennen als Bubenunterwaesche. Nun,
das war doch gar kein so schlechter Handel, oder?
Nach bereits 14 Tagen muss Mama die Wascherei so auf den
Wecker gegangen sein, dass ich ploetzlich zwei weitere
Waeschesets in meiner Maedchenschublade hatte, in der u. a. auch
meine Strumpfhosen und mein Haarreif liegen.
Weitere zwei Wochen spaeter war ich mit Mama beim Aldi wo
gerade mal Kinderunterwaesche sehr guenstig verkauft wurde. Da
wollte mir Mama weitere Maedchensets kaufen. Sie lagen bereits im
Einkaufswagen und von anderen Sachen etwas zugedeckt. Aber ich
bemerkte sie, holte die Sets hervor, sah sie mir an und sagte dann
natuerlich als Herbert -- ich war ja mit Mama unterwegs: "Mama,
diese Maedchenunterwaesche mag ich nicht, die hat ja nicht einmal
Spitzen dran. Und ein seidiges Schleifen oder so was kann ich auch
nicht sehen."
Ich glaube, mindestens 100 Augenpaare haben mich in diesem
Moment angestarrt. Mama tat mir leid. Sie sah total durcheinander
und irgendwie etwas verwirrt aus. Sie nahm mir die Waesche aus
den Haenden, brachte sie dahin zurueck, wo sie sie geholt hatte und
hatte es ploetzlich aeusserst eilig an die Kasse zu kommen.
Normalerweise standen wir gemeinsam an der Kasse, doch an
diesem Tag sagte sie nur kurz, dass sie noch was holen wolle und
ich unseren Wagen schon mal in der Schlange weiterschieben solle.
Auf der Heimfahrt sprach sie fast kein Wort mit mir. Und ich traute
mich auch nicht recht. Ich wusste, dass ich im Geschaeft was gesagt
hatte, was ich nicht haette sagen sollen. Das Problem war wohl
weniger der Inhalt meiner Saetze, auch wenn ich dadurch in
gewisser Weise die Kinderwaesche vom Aldi schlecht gemacht
hatte, als vielmehr die Kombination "meine Saetze und ich".
Zuhause warf mir Mama vor, sie haette sich fuer mich in Grund und
Boden geschaemt. Daraufhin wurde es mir selbst zu viel, schrie, ich
koenne doch nichts dafuer, dass ich kein Maedchen sei, und lief
heulend in mein Zimmer, in dem ich mich einsperrte und dieses
trotz liebevollem Zureden und trotz Drohungen an diesem Tag nicht
mehr verliess.
Mama hatte mich an diesem Tag von der Schule abgeholt und war
mit mir gleich zum Einkaufen gefahren. Ich hatte also noch nicht zu
Mittag gegessen. Aber Hunger war fuer mich an diesem Nachmittag
und Abend ein Fremdwort. Mehrmals weinte ich mich an diesem
Nachmittag und Abend in den Schlaf, mehrmals wachte ich auf.
Einmal rief Mama mir durch meine verschlossene Tuer zu, dass sie
mal fuer eine Stunde zu ihrer Freundin Heike ginge. Ich solle keine
Tueren oeffnen, niemanden hereinlassen, usw. . In dieser Stunde
sperrte ich meine Zimmertuer auf und ging auch mal auf die
Toilette. Als ich Mama heimkommen hoerte, drehte sich mein
Zimmerschluessel ganz automatisch wieder in Richtung 'zu'.
Als Papa abends um vielleicht 10 Uhr heimkam, da muss er wohl
nicht schlecht ueber Mamas Geschichte gestaunt haben. Auch er
versuchte nun, mich zum Aufsperren zu bewegen. Schliesslich
schaffte er es auch, nachdem er mir versprach, nur allein in mein
Zimmer hereinzukommen und wieder zu gehen, falls ich ihn darum
bitten wuerde.
Nun hoerte er sich meine Version an und musste bei meinen
Saetzen im Aldi schon sehr schmunzeln. Papi war mir nicht boese.
Mama dagegen hatte mich wegen dieser Saetze geschimpft. Aber er
haette Verstaendnis fuer Mamas Reaktionen, so meinte er.
Irgendwann rief mir Mama dann noch ein "gute Nacht" durch die
Tuer zu, was ich nach Bitten von Papa dann auch Mama zurief -
allerdings etwas halbherzig.
So 11 Uhr abends duerfte es gewesen sein, als Papi und ich dann am
Kuechentisch sassen und gemeinsam zu Abend assen. Eine grosse
innere Spannung war mir durch das Gespraech mit Papa genommen
worden. Ploetzlich hatte ich wahrgenommen, dass ich ausser einem
Fruehstueck und einer kleinen Brotzeit heute noch nichts gegessen
hatte. Und da ich eh eher einer Bohnenstange gleiche, kann man
auch nicht davon sprechen, dass ich ja "Reserven" haette. Papa hat
fuer uns beide damals das uebrig gebliebene Mittagessen
aufgewaermt, das aus Fischstaebchen, Bohnen und Kartoffelpueree
bestand. Ich liebe ja sowieso Fischstaebchen, aber so gut wie
damals nachts, waren sie bis dahin noch nie.
Am naechsten Morgen weckte mich Mama erst um 9 Uhr. Sie hatte
mich wohl in der Schule fuer diesen Tag krankgemeldet. Daraufhin
ging sie mit mir zum Kinderarzt. Der aber, so habe ich das
verstanden, hatte von meiner Art von "Erkrankung" selbst kaum
eine Ahnung, wusste auch nicht, wo Mama mit mir diesbezueglich
hingehen koennte, und meinte abschliessen, dass so eine
Identitaetsphase sehr viele Kinder in meinem Alter haetten, und
dass sich das fast immer wieder normalisieren wuerde.
Ich wusste, dass Mama mit dieser Antwort nicht zufrieden war. Sie
wollte wohl einen Arzt finden, der mir diesen "Bloedsinn" aus dem
Kopf "austreiben" wuerde. Fuer mich aber war das keine
"Erkrankung" und auch kein "Bloedsinn", und "austreiben" lassen
wollte ich mir meine Traeume schon gleich gar nicht! Aber dass ich
da auch noch ein Woertchen mitreden wuerde, das wuerde sie schon
noch merken, dachte ich mir nur. Was konnten diese Aerzte mir
schon anhaben? Krebs kann man lokalisieren und herausoperieren.
Aber einen Traum? Das war sicherlich nicht moeglich, und somit
bestand auch keine unmittelbare Gefahr. Ach ja, und ausserdem
habe ich bereits mit Papa ueber Behandlungen diesbezueglich
gesprochen. Es gibt naemlich Phasen, in denen hasse ich es, so zu
denken wie ich denke. Dann sehne ich mich nach nichts mehr, als
"normal" zu sein, bzw. "normal" zu denken. Meistens aber rege ich
mich nicht ueber meine Gedanken, meine Gefuehle und meine
Traeume auf, sondern ueber meinen Koerper, ueber das was da
zwischen meinen Beinen haengt, was sich da bei bestimmten
Gedanken so aeusserst unangenehm bemerkbar macht, und was ich
am liebsten wegoperiert bekaeme, wenn ich nicht so